Die Erlebnisgesellschaft

von Gerhard Schulze |

1992 erschien "Die Erlebnisgesellschaft" zum ersten Mal – und machte rasch Furore. Heute kann der Text mit Fug und Recht als moderner Klassiker der Soziologie gelten. Gerhard Schulze konstatierte einen umfassenden Wandel in unserer Gesellschaft, durch den das Leben zum Erlebnisprojekt geworden ist. Die Erlebnisorientierung ist die unmittelbarste Form der Suche nach Glück. Eine Suche, die noch längst nicht abgeschlossen ist – diese neue Art zu leben müssen wir erst lernen und die Folgen noch bewältigen. Dies gilt auch heute noch: Die Sucht nach dem Kick und nach Performance ist eher gewachsen, und damit ist Gerhard Schulzes Analyse aktueller denn je.
Schulze, Gerhard. Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. ISBN 3593378884. Campus 2005. 612 Seiten.

Dies ist eine Buchzusammenfassung von Felix Ruther

 

In der Nachkriegszeit hat sich die Beziehung der Menschen zu Gütern und Dienstleistungen kontinuierlich verändert. Produkte werden nicht mehr als Mittel zu einem bestimmten Zweck offeriert, sondern als Selbstzweck. Sie sollen an sich zufriedenstellen, unabhängig von ihrer Verwendung für irgendetwas.

So wurde Design und Produktimage zur Hauptsache, Nützlichkeit und Funktionalität zum Accessoire.

All diese Ästhetisierung von Produkten ist Teil eines umfassenden Wandels, der nicht auf den Markt der Güter und Dienstleistungen beschränkt bleibt. Das Leben schlechthin ist zum Erlebnisprojekt geworden. Zunehmend ist das alltägliche Wählen zwischen Möglichkeiten durch den blossen Erlebniswert der gewählten Alternative motiviert: Konsumartikel, Berufe, Partner, Kind, Kinderlosigkeit, …

Unsere Gesellschaft ist natürlich nicht nur eine Erlebnisgesellschaft, sie ist es aber mehr als andere Gesellschaften geworden.

 

Wenn man das Verhältnis von Subjekt und Welt in unserer Gesellschaft untersucht, zeigt sich, dass dieses Verhältnis subjektzentriert bezeichnet werden kann. Zudem kann man feststellen, dass ein Basismotiv in diesem Verhältnis die Erlebnisorientierung ist, d.h. der Sinn des Lebens wird durch die Qualität subjektiver Prozesse definiert. Man will ein schönes, interessantes, angenehmes und faszinierendes Leben führen. Es geht dabei nicht mehr primär ums Überleben, um Sicherheit, um Abwehr von Bedrohungen und Kampf gegen Restriktionen, sondern um die Lebensgestaltung jenseits situativ bedingter Probleme, unabhängig vom objektiven Vorhandensein solcher Probleme. An die Stelle situativ definierter Probleme treten subjektive Lebensprobleme.

 

Subito

Erlebnisorientierung ist die unmittelbarste Form der Suche nach Glück. Der Erlebnisorientierung entgegengesetzt ist ein Handlungsmuster der aufgeschobenen Befriedigung: Sparen, langfristiges Liebeswerben, zäher politischer Kampf, vorbeugendes Verhalten aller Art, hartes Training, Entsagung und Askese. Bei Handlungen dieses Typs wird die Glückshoffnung in eine ferne Zukunft projiziert, beim erlebnisorientierten Handeln richtet sich der Anspruch ohne Zeitverzögerung auf die aktuelle Situation. Man inverstiert Geld, Zeit Aktivität und erwartet fast im selben Moment den Gegenwert.

 

Probleme

Man kann zwar versuchen eine äusserst günstige äussere Situation herzustellen, aber das angestrebte innere Erlebnis, ist damit nicht identische. Ausrufe wie „langweilig“, „nichts geboten“ usw. bezeugen, dass die meisten in ihrem Alltagswissen die Tatsache vergessen, dass eben jeder für seine Erlebnisse selbst verantwortlich ist. Wir lassen uns bei jeder Erlebnisabsicht auf ein Enttäuschungsrisiko ein.

Ein Hauptproblem erlebnisorientierten Handelns besteht darin, dass man nicht mehr weiss, was man eigentlich will. Es gibt selten sichere Anhaltspunkte für unsere Erlebniswünsche, oft genug nur Mutmassungen, ja völlige Ratlosigkeit.

Am Anfang eines Erlebnisprojektes steht Unsicherheit, am Ende ein Enttäuschungsrisiko. Beide Probleme stabilisieren sich gegenseitig. Versucht man das eine zu verringern, so verschärft sich das andere. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass unsere Gesellschaft nicht glücklich erscheint und dass ein immer stärkerer Aufwand in der Erlebnissuche betrieben wird. Der homo ludens spielt mit zunehmender Verbissenheit.

 

Soziologische Interpretationen

Die Deutungsversuche unserer Zeit lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Endvision und Anfangsbeschreibung. Allgemein ist man sich aber einig, dass die Grossgruppengesellschaft am Ende ist. Die Entwicklung der Alltagsästhetik scheint dieser Auffassung Recht zu geben. Tritt nicht durch die volle Entfaltung des Erlebnismarktes die Individualisierung in ein finales Stadium ein? Geraten nicht die letzten Reste von Gruppenerfahrung und Solidarität auf dem Erlebnismark in eine Zertrümmerungsmaschine, die nur noch den einzelnen als soziales Atom zurücklässt? Jeder sucht sein eigenes Erlebnis. Kontaktvernichter wie TV, Video, Computer, Walkman, Auto, Einkaufszentren .. tragen noch das ihrige bei. So dass sich die Menschen aus immer wieder scheiternden Erlebniskoali Erlebniskoalitionen in Lebensformen zurückziehen, die sich mit perfekt eingerichteten Vergnügungskabinen vergleichen lassen.

Schon wird über die Grenzen der Individualisierung nachgedacht. Worin der limitierende Faktor dieser Individualisierung besteht, zeigt sich in subjektiven Krisenerscheinungen wie Entwurzelung, Sinnverlust, Kontaktunfähigkeit, Einsamkeit. So schreit das durch die Individualisierung überforderte Individuum wiederum nach kollektiven Schematisierungen und Orientierungshilfen.

1. Ästhetisierung des Alltagslebens

1.1. Erlebnisgesellschaft

Vielfalt

Trotz der neuen „Unübersichtlichkeit“ (Haber-mas) gibt es in unserer Gesellschaft ein fast universelles Muster der Beziehung von Mensch und Welt. Man kann sogar feststellen, dass sich die Vielfalt in unserer Gesellschaft gerade aus einer grundlegenden Gemeinsamkeit, der allgegenwärtigen Erlebnisorientierung, ergibt.

Der kleinste gemeinsame Nenner von Lebensauffassungen in unserer Gesellschaft ist die Idee eines schönen, interessanten, subjektiv lohnend empfundenen Lebens. Das Projekt des dienenden, einer Sache untergeordneten Lebens oder das Projekt des blossen physischen Überlebens ist stark zugunsten des Projektes des schönen Lebens zurückgetreten.

Der Wandel lässt sich auch als Verschiebung von Aussenorientierung nach Innenorientierung feststellen. Aussenorientierte Lebensauffassungen zielen primär auf eine Wirklichkeit ab, die sich der Mensch ausserhalb seiner selbst vorstellt . Bei einer Aussenorientierung gilt z.B. das Ziel, Kinder zu haben, dann als erreicht, wenn Kinder existieren, bei einer innenorientierten Lebensauffassung erst dann, wenn sie die Eltern glücklich machen (oder wenigstens nicht zu sehr auf die Nerven gehen). Ob ein Auto fährt (aussenveran-kertes Ziel), können alle beurteilen; ob man dabei ein schönes Fahrgefühl hat (innenverankertes Ziel), muss jeder für sich entscheiden. In vielen Bereichen des Alltagslebens ist aussenorientiertes Handeln zurückgegangen, innenorientiertes Handeln vorgedrungen.

Früher war z.B. aussenorientierter Transport das normale. Nur gerade die Reichsten konnten es sich leisten sich in einer Kutsche herumfahren zu lassen aus Lust an der Fahrt. Zwar wird auch heute noch der grösste Teil der Kilometer zum Zweck der Verschiebung ohne Erlebnisabsichten zurückgelegt, doch hat das innenorientierte Moment im Verkehr eine so grosse Bedeutung gewonnen, dass davon ganze Industriezweige leben.

 

Das Schöne

Erlebnisorientierung richtet sich auf das Schöne. Wobei das Schöne hier ein Sammelbegriff ist für positiv bewertete Erlebnisse. Buchstäblich kann alles für irgendjemand als schön gelten Das Projekt des schönen Lebens hat also keinen bestimmten Kurs. Doch wer sich diesem Projekt verschrieben hat, achtet auf sein Erleben und versucht die Umstände so zu arrangieren, dass er sie als schön empfindet. Diese Grundmotivation war nicht immer so selbstverständlich vorherrschend. Es gibt und gab auch Gesellschaften mit anderen Selbstverständlichkeiten: Leben als Überleben; Leben als Dienen, Pflicht, Selbstaufopferung; Leben als Existenz mit metaphysischem Bezug. Bei solchen Lebensauffassungen ergaben sich schöne Erlebnisse allenfalls als Nebenprodukte, ohne zentrales Lebensziel zu sein.

 

Erlebnisrationalität

Erlebnisrationalität ist der Versuch, durch Beeinflussung äusserer Bedingungen gewünschte subjektive Prozesse auszulösen. Wenn wir erlebnisrational handeln, dann wird das Erlebnis zum hauptsächlichen Ziel unserer Handlung und bleibt nicht nur Begleiterscheinung. Handelt man erlebnisrational, wird man andere Entscheidungen treffen, als wenn es etwa darum geht, das Überleben sicherzustellen, kollektiven Zielen zu dienen oder göttlichen Geboten zu folgen. Ein pflichtbewusster Mensch handelt z.B. ohne nach dem Erlebniswert des Handelns zu fragen. „Etwas tun zu wollen“ ist kein Synonym zum Begriff der Erlebnisorientierung, sondern eine Oberkategorie, die viele Spielarten der Motivation mit einschliesst, unter anderem auch Pflichtbewusstsein und Erlebnisorientierung.

Erlebnisorientierung ist auch ein graduelles Phänomen. So können sich die innen- und aussenorientierten Komponenten einer Handlung mischen.

 

Eindruck

Es gibt sog. Eindruckstheorien, die behaupten, dass es vor allem auf die Situation ankommen und weniger auf das beeindruckte Subjekt. Die Erfahrung zeigt aber, dass Erlebnisprojekte meist nicht an den Umständen, sondern an den Menschen selber scheitern. Mit der Bereitstellung von situativen Zutaten (Konsumgüter, Reisen, Veranstaltungen, Kontakte usw.) ist es meist nicht getan. Das Ziel liegt innen, die mobilisierten Mittel bleiben aussen. So können zwei Personen das gleiche Ereignis vollkommen verschieden erleben. Die Eindruckstheorie beantwortet auch die Frage nicht, weshalb wir gleiche Orte zu verschiedenen Zeitpunkten ganz unterschiedlich erleben, oder weshalb sich eine Kunstwahrnehmung mit einer angebotenen Interpretation verändert. Es muss z.B. nur jemand sagen, ein Bild sei doch Kitsch und schon gefällt es vielen nicht mehr. Eine gute Erlebnistheorie muss also dem Subjekt eine aktivere Rolle zugestehen.

 

Verarbeitung

Erlebnisse werden nicht vom Subjekt empfangen, sondern von ihm gemacht. Was von aussen kommt, wird erst durch Verarbeitung zum Erlebnis. Eine Erlebnistheorie der Verarbeitung enthält drei Elemente:

  1. Subjektbestimmtheit: Auch der radikal alleingelassene Mensch erlebt, sofern er lebt, und er erlebt, ob er will oder nicht. Zu einem Erlebnis wird ein Material erst in einem subjektiven Kontext, der so, wie er mit der Situation zusammentrifft, kein zweites Mal vorkommt. Die Situation interagiert mit dem Subjekt. Von fünfzigtausend Menschen in einem Stadion erlebt keiner den Torschuss in derselben Weise. Alle haben es mit demselben Material zu tun, doch interagiert es mit unterschiedlichen Kontexten.
  2. Reflexion: Reflexion ist der Versuch des Subjektes, seiner selbst habhaft zu werden. Durch Erinnern, Erzählen, Interpretieren, Bewerten gewinnen Ursprungserlebnisse festere Formen. Gegen den ständigen Verlust an Erlebnissen im Fortschreiten der Zeit setzt der Mensch Reflexion als Verfahren der Aneignung. Die Aneignung von Erlebnissen gelingt in der Kommunikation leichter.
  3. Unwillkürlichkeit: Wenn ein Ursprungserlebnis in einer Reflexion nachbehandelt wird, dann verändert es sich. Das Ursprungserlebnis selber aber kann auch durch äussere Planung nicht gross beeinflusst werden. Diese Unwillkürlichkeit des Ursprungserlebnisses hängt also mit der Subjektbestimmtheit der Erlebnisse zusammen. Erst die Reflexion erlaubt eine gewisse Korrektur.
    Subjektbestimmtheit, Reflexion und Unwillkürlichkeit führen dazu, dass sich Erlebnisse durch Situationsmanagement allein nicht steuern lassen.
    Es wäre aber kein Gewinn von einer situationslastigen zu einer subjektlastigen Theorie zu wechseln. Denn ähnliche äussere Umstände können ja auch subjektive Ähnlichkeiten erzeugen.

 

Beziehung von Subjekt und Situation

Mit der Vermehrung von Möglichkeiten ändert sich auch die Beziehung zwischen Subjekt und Situation. Ein grosse Möglichkeitsraum gestattet es, zu wählen, statt einzuwirken.

Solange die situativen Grenzen, welche die Subjekte betrafen, eng gezogen waren, traten diese Grenzen auch in der Wahrnehmung hervor. Das Bewusstsein thematisierte den Mangel, etwa an Geld, Eigentum, Bildung etc. Das Einwirken auf die Situation war darauf ausgerichtet, sich in ihr zu arrangieren oder ihre Grenzen zu erweitern, den Mangel zu verwalten oder zu lindern. Erlebnisse blieben für den grössten Teil der Bevölkerung Nebensache; das Handeln war aussenorientiert.

Wenn sich nun in einer Gesellschaft die Grenzen so erweitert haben, dass man sie kaum noch spürt, dann ist man mit der Auswahl beschäftigt, und die Frage, was einem möglicherweise vorenthalten bleibt taucht kaum noch auf. In einer Gesellschaft, wo der Möglichkeitsraum riesig angewachsen ist, stehen die Menschen unter dem Druck, fast schon unter dem Zwang, sich intensiv mit sich selber zu beschäftigen. Was sollen sie wählen? Nun entwickelt sich ein innenorientiertes Handeln, bei dem das Subjekt die Situation als Mittel betrachtet, um bei sich selbst bestimmte Prozesse zu provozieren. Es entsteht das Projekt des schönen Lebens.

 

Erlebnisgesellschaft

Die neue Beziehung zwischen Subjekt und Situation bringt die Menschen dazu, sich stärker mit sich selbst zu beschäftigen. Erlebnisorientierte Beeinflussung des eigenen Innenlebens durch Situationsmanagement wird zum zentralen Thema.

Wer ein Haus nach vorgegebenen Plänen errichten soll, muss nicht intensiv über sich selber nachdenken, wohl aber derjenige, der die Pläne mitgestaltet und dabei das Ziel im Auge hat, sich später in dem Haus wohlzufühlen. Auf dem Bauherr lastet die Bürde der Reflexion; alle anderen müssen bloss ihr Handwerk verstehen. Inwiefern hat es der Bauherr schwerer als die Handwerker? Genügt es nicht, wenn er einfach sagt, was er will? Ja - aber dies ist nicht einfach. Das Ergebnis der Reflexion ist in einem ungewöhnlichen Mass offen. Wer sich selbst befragt ist mit ungleich grösseren Unsicherheiten konfrontiert, als wer die ihn umgebenden Dinge erforscht.

Eine Verschiebung der Aussenorientierung nach innen erfordert eine Intensivierung der Reflexion.  Man kann eben mit sich selbst nicht wie mit einer Natursache umgehen. Daraus resultiert der Orientierungsbedarf, der die Gemeinsamkeiten der Erlebnisgesellschaft wieder erklärbar macht.

 

Reflexion kann Ursprungserlebnisse nicht wiederholen; vielmehr besteht sie gerade darin, Ursprungserlebnisse in einer Weise zu betrachten, die etwas Neues entstehen lässt. Was für die Anschauung der Welt durch das Subjekt gilt, muss auf die Anschauung des Subjektes durch das Subjekt ausgedehnt werden: Das Ergebnis der Beobachtung ist durch die Art und Weise beeinflusst, wie man beobachtet. Keine Weltbetrachtung und Selbstbetrachtung ohne Apriori. Viele Perspektiven sind möglich; unmöglich ist nur, sich ohne Perspektive selbst zu beobachten. dadurch, dass die Anschauung zwingend eine Anschauungsweise fordert, entsteht Unsicherheit. Ein und dasselbe Erlebnis wird als angenehm oder unerfreulich empfunden, je nachdem, mit welchen Augen man es betrachtet. Welche der zahllosen Möglichkeiten uns selbst zu sehen,  sollen wir wählen? Wollte man diese Frage im Alltagsleben systematisch weiterverfolgen, geriete man in eine Reflexion der Reflexion und von da in einen unendlichen Regress. Einfacher ist es, sich gängiger, sozial eingeübter Formen der Selbstanschauung zu bedienen. Dies ist die Stelle, wo sich das Subjekt in der Erlebnisgesellschaft kollektiven Schematisierungen öffnet, fast immer, ohne es zu merken. Man übernimmt intersubjektive Muster.

1.2. Die Vermehrung der Möglichkeiten

Bedingt durch die Vermehrung der Möglichkeiten gewinnt die Handlungsform des Wählens gegenüber der Handlungsform des Einwirkens an Boden. Täglich stehen wir vor der Notwendigkeit der freien Wahl. Fast immer sind jedoch die Gebrauchswertunterschiede der Alternativen bedeutungslos. Waschmittel x wäscht genau so gut wie Waschmittel y, und Beförderungsprobleme lassen sich mit verschiedenen Automarken gleich gut lösen. Dies zwingt uns dazu, ständig Unterscheidungen nach ästhetischen Kriterien vorzunehmen. Erleben wird vom Nebeneffekt zur Lebensaufgabe.

Die Vermehrung der Wahlmöglichkeiten kann an den folgenden vier Teilaspekten gezeigt werden:

  1. Angebot: In besonderem Masse gilt diese Angebotsexplosion für diejenigen Angebote, deren Gebrauchswert ausschliesslich in ihrem Erlebniswert besteht, etwa Kino, Musikkonserven, Illustrierte.
  2. Nachfragekapazität: Konsumfähigkeit ist abhängig vom Realeinkommen und der Zeit, die man für das Verbrauchen einsetzen kann. Beeindruckend ist gerade der Gewinn an verfügbarer Zeit. Simultan dazu expandierten die Reallöhne. Ungleiche Konsumchancen bestehen zwar noch, doch hat sich die Skala mehr und mehr vom Bereich des Lebensnotwendigen in den Bereich des Entbehrlichen verschoben. So hat sich der Anteil der Ausgaben für Grundnahrungsmittel und andere physisch unentbehrliche Güter an den Gesamtausgaben von 1950 bis 1973 etwa halbiert.
  3. Zugänglichkeit: Zunehmend stehen die Möglichkeitsräume fast allen Menschen offen. Die sozialen Unterschiede spielen fast keine Rolle mehr.
  4. Gestaltbarkeit der Welt: Heute gilt fast alles als gestaltbar, Psyche, Beziehungen, Familie, Biographie, Körper. All das gilt zunehmend als machbar, reparierbar, revidierbar. Immer mehr Menschen sehen ihre Existenz in einem umfassenden Sinn als gestaltbar. Damit öffnen sie sich neue Möglichkeitsräume, die vorher durch kognitive Barrieren (Fatalismus, Vorstellung der Gottgegebenheit) verschlossen waren.

1.3. Erlebe dein Leben

Angebotsexplosion, Ausweitung der Konsumpotentiale, Wegfall von Zugangsbarrieren, Umwandlung von vorgegebener in gestaltbare Wirklichkeit: Die Erweiterung der Möglichkeiten führt zu einem Wandel der Lebensauffassungen. Man befindet sich in einer Situation, die als Entscheidungssog zu bezeichnen ist. Das gerade erstandene Buch wird vielleicht nie gelesen; man geht ins Restaurant, obwohl man gerade zu Abend gegessen hat. Es kommt nicht darauf an, aber man wählt dieses, macht jenes, nimmt irgendetwas im Vorbeigehen noch mit, findet etwas anderes ganz nett und holt es sich. Man muss sich nicht entscheiden, aber man entscheidet sich doch, wie jemand, der im Zustand der Sättigung gedankenverloren in eine volle Pralinenschachtel greift.

Im Entscheidungssog der Möglichkeiten wird der Mensch immer wieder auf seinen Geschmack verwiesen. Immer wieder muss man sich danach richten, worauf man Lust hat, wonach sonst? Der Handelnde erfährt sich nicht als moralisches Wesen, als Kämpfer für ein weit entferntes Ziel, als Unterdrückter mit der Vision einer besseren Welt, als Üeberlebenskünstler, als Träger von Pflichten. Wissen, was man will, bedeutet wissen, was einem gefällt. „Erlebe dein Leben!“ ist der kategorische Imperativ unserer Zeit.

So wandern denn Erlebnisansprüche von der Peripherie ins Zentrum der persönlichen Werte; sie werden zum Massstab über Wert und Unwert des Lebens schlechthin und definieren den Sinn des Lebens.

Im Hintergrund erlebnisorientierten Handelns steht meist die naive Eindruckstheorie des Erlebens, an deren Aufrechterhaltung der Erlebnismarkt mit allen Mittel arbeitet. Indem die Eindruckstheorie suggeriert, dass es genüge, die Situation zu manipulieren, um gewünschte Erlebnisse zu haben, verdeckt sie die Schwierigkeiten, die im Projekt des schönen Lebens angelegt sind. Die Manipulation von Situationen vollzieht sich durch Aneignung von Waren, Besuchen von Veranstaltungen, Inanspruchnahme von Dienstleistungen, Herstellen oder Abbrechen von Kontakten. Doch Erlebnisse lassen sich nicht bereits durch Situationswahl programmieren.

1.4. Unsicherheit

Nicht das Leben an sich, sondern der Spass daran ist das Kernproblem, das nun das Altagshandeln strukturiert. Unsicherheit ist ein Teil dieses Problems: Was will ich eigentlich?

Stimmt es, dass es Menschen unter harten materiellen Bedingungen eigentlich besser geht? In philosophischer Hinsicht ja: Sie wissen, was sie wollen und was sie zu tun haben. In ihrem Leben gibt es einen integrierenden und identitätsstiftenden Faktor. Menschen, die nach oben wollen, haben Mittelkrisen, Menschen, die oben sind, haben Sinnkrisen. Diese haben die Pointe ihrer Existenz noch vor sich, jene müssen sich überlegen, was danach kommt. Für jenen, der unten ist und den noch nicht aller Mut verlassen hat, ist das Leben eine spannungsvolle Herausforderung. Das Privileg der Unterprivilegierten besteht in der Faszination der handgreiflichen Erfolgschance, das Problem der Privilegierten in der Langeweile von Menschen, die nicht recht wissen, was sie wollen. Der Glückspilz ist unglücklich der Habenichts glücklich („Hans im Glück“, „Kannitverstan“ Hebel; „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ Tolstoi; „Aus dem Leben eines Taugenichts“ Eichendorf).

Neu ist die gesellschaftliche Verbreitung dieses Problems.

Selbst wenn man das Angebot der Werbung, das einem Klarheit über eigene Wünsche verspricht, als Suggestion erkennt, hat das Angebot in einer zunehmenden Verunsicherung durch Innenorientierung eine Chance gehört zu werden. Die Überlebensfähigkeit der Werbung trotz aller Enttarnung weist auf ein Orientierungsbedürfnis hin, das schon Züge von Angst trägt. Diese Angst öffnet das Individuum für blindes Vertrauen, wider besserer Einsicht und erzeugt ein Anlehnungsbedürfnis, das sich in Mentalitäten, Gruppenbildungen und neuen Formen der Öffentlichkeit niederschlägt. Man nimmt wieder kollektive und institutionelle Orientierungshilfen an: Stil, Stiltypen, soziale Milieus, Szenen. Ohne kollektive Muster wären viele durch das Programm, so zu leben, wie sie wollen, philosophisch überfordert. Erst die Orientierungskrise, die sich mit dem Wunsch nach einem erlebten Leben verbindet, erklärt bestimmte soziale Strukturen, die in unserer Gesellschaft immer mehr in den Vordergrund treten.

1.5. Enttäuschung

Heute ist es fast selbstverständlich, dass Produkte eine ständige Gebrauchswertsteigerung erfahren. Die Konsumenten registrieren solche Produktentwicklungen und reagieren darauf. Durch ständigen Austausch und fortlaufende Ergänzung der Dinge des täglichen Lebens verbessern sie, objektiv gesehen, ihre Lebensqualität. Aber die subjektive Bedeutung dieser Verbesserungen ist gering, wie die Zufriedenheitsforschung immer wieder gezeigt hat. Schon der noch nicht einmal gekaufte, nur in Betracht gezogene Gegenstand ist durch die sichere Erwartung, dass eine überlegene Produktgeneration folgen wird, in seinem Wert gemindert. Im Lauf der Jahre lernt man, dass die letzten Errungenschaften, Neuigkeiten, Trends niemals die letzten bleiben werden.

Die explosionsartige Zunahme des Brauchbaren  führt zu einem Verfall der Freude an Brauchbarkeit. Je mehr sich die Qualität der Dinge steigert und je leichter man darüber verfügen kann, desto blasser erscheint ihr Gebrauchswert. Die Fähigkeit, sich am Gebrauchswert zu freuen, wäre ein sicherer Schutz vor Enttäuschung. Handelt man aussenorientiert, kommt es auf Freude nicht an, gleichwohl verspürt man sie, wenn etwas seinen Zweck erfüllt. Beim innenorientierten Handeln wird das schöne Erlebnis zur Hauptsache, Brauchbarkeit zur Nebensache. Dadurch entsteht Enttäuschbarkeit. Die Frage ist nun, wie niedrig man das Risiko der Enttäuschung halten kann.

Wie bei anderen Werten besteht aber die Tendenz, dass sich wiederholte Erlebnisse entwerten. Auf der Suche nach dem verlorenen Reiz braucht man stärkere Dosen und erlebt dennoch weniger. Das Individuum kann sich unter diesem Erlebnishunger sogar so verändern, dass der Erlegbnishunger schon gar keine Befriedigung mehr zulässt. Im Moment der Erfüllung entsteht bereits die Frage, was denn nun als nächstes kommen soll, so dass sich Befriedigung gerade deshalb nicht mehr einstellen kann, weil die Suche nach Befriedigung zur Gewohnheit geworden ist. So steigt auch der Erwartungsdruck in allen Lebensbereichen. Je vorbehaltloser Erlebnisse zum Sinn des Lebens gemacht werden, desto grösser wird die Angst vor dem Ausbleiben von Erlebnissen.

Zur Angst vor Langeweile gesellt sich auch die Angst, etwas zu versäumen. So gross die Zahl der Angebote auch ist, im Konsum des Erlebnisses liegt unvermeidlich eine Festlegung. Gewählt zu haben bedeutet immer auch, andere Möglichkeiten ausgeschlagen zu haben. Der entgangene Gewinn an Erlebnissen ist jedoch nicht zu kalkulieren.

Enttäuschungen sind, ebenso wie schöne Erlebnisse, eine bestimmte Form der Selbstbeobachtung: Man reflektiert Ursprungserlebnisse. Viele meinen im Sinne der einfachen Eindruckstheorie, dass die Umstände für die Enttäuschung verantwortlich seien und versuchen diese zu manipulieren. Neue Enttäuschungen sind so aber garantiert.

Das Projekt des schönen Lebens verbindet sich mit seinen Folgeproblemen von Unsicherheit und Enttäuschung zu einem dynamischen Motivationsgemenge, aus dem neue kollektive Strukturen hervorgehen. An die Stelle von Gesellschaftsbildung durch Not tritt Gesellschaftsbildung durch Überfluss.

1.6. Wandel der Problemdefinition und Gesellschaftsbildung

Noch am Ende des 19. Jahrhunderts dominierten aussenorientierte Probleme die Gesellschaft. Aus der Erfahrung der Knappheit und Bedrohung erwuchs ein Problembewusstsein, das an der Situation ansetzte. Es ging primär um äussere Lebensbedingungen: Ressourcen, Sicherheit, Abwehr von Gesundheitsrisiken. Nach einer Zeit der Koexistenz verschiedener Problemdefinitionen normalisierte sich das ehemalige Luxusproblem der Erlebnisorientierung. Nicht mehr Knappheit, sondern Überfluss ist nun die überwiegende alltägliche Erfahrung, nicht nehmen, was zu bekommen ist, sondern wählen müssen, nicht Versorgung, sondern Entsorgung.

Der Imperativ „Erlebe dein Leben!“ definiert ein existentielles Problem, dessen Vertracktheit damit beginnt, dass es als unproblematisch erscheint. Was soll schon schwierig daran sein, sich ein schönes Leben zu machen, wenn man halbwegs die Ressourcen dafür hat? Man meint Erlebnisorientiertheit sei der Anfang vom Ende aller Schwierigkeiten. In Wahrheit setzen sich die Schwierigkeiten auf einer neuen Ebene fort. Bedroht ist nicht mehr das Leben, sondern der Sinn.

Das Ziel der Erlebnisorientierung verbindet sich mit den Ängsten Unsicherheit und Enttäuschung. Diese Ängste  stimulieren sich gegenseitig. Unsicherheit verlangt nach stabilisierenden Handlungen: Anlehnung an kollektiv eingefahrene Muster, Wiederholung oder Traditionsbildung. Man sucht nach Entlastung von der Frage „Was will ich eigentlich?“ Mit der Routinisierung des Erlebens häufen sich jedoch die Enttäuschungserfahrungen, denn die Erlebnisintensität sinkt normalerweise mit der Wiederholung der Erlebnisreize. Der erlebnisorientierte Mensch gerät in ein Dilemma. Gibt er dem Streben nach Sicherheit nach, beginnt die Langeweile, tut er etwas gegen die Langeweile, verunsichert er sich.

Diese neue Art der Problemdefinierung spiegelt sich auch im Umgang mit solchen Problemen wieder, die sich eigentlich ausserhalb dieser Problemdefinition befinden: Krankheit, Tod, Kriege, Verbrechen, Hunger, Drogen, Armut, Arbeitslosigkeit und Umweltprobleme. Vor allem zwei Muster der Umdeutung sind als Reaktion auf solche Probleme verbreitet: Ästhetisierung und Marginalisierung.

  • Ästhetisierung: Sie beginnt schon bei den Informationsanbietern. Diese verdichten die tägliche globale Ausbeute an schrecklichen Ereignissen zu kurzen Erlebniseinheiten. Auf Distanz gehalten durch den Tonfall des Sprechers und durch die Einbettung der Nachrichten in andere Erlebnisangebote (Film, Quiz, Werbung) gerät das Unglück in die Sphäre des Unwirklichen, kaum noch unterscheidbar von einer Verfolgungsjagt in einer beliebigen Actionserie. Nachrichten werden zur Unterhaltung; Mitleid und Besorgnis zur Pose (die vom Voyeurismus ablenken soll) oder gleich zur Hauptsache, zum Erlebnis.
  • Marginalisierung: Armut wird weggefegt, versteckt. Arme selber verstecken sich hinter der Maske des Normalen. Noch auffallender ist die Kluft zwischen Realität und Interpretation bei der Behandlung von Umweltkrisen. Auf das Ausbleiben von Schnee reagieren wir mit dem Bau von Schneekanonen, auf Algenblüten in der Adria durch Umbuchung. Als Kollektiv sind wir bisher unfähig gewesen, wieder hinter die Innenorientierung zurückzugehen zu einer auf Bedingungen des Überlebens gerichteten Orientierung, die der objektiven Umweltsituation angemessen wäre. Die Fixierung scheint so stark zu sein, dass eine Umorientierung wohl erst nach einer Häufung radikaler Bedrohungserfahrungen zu erwarten ist.

1.7. Zusammenhänge

Die Ästhetisierung des Alltagslebens läuft nur punktuell, im jeweiligen individuellen Handeln, auf Befriedigung hinaus, langfristig jedoch, wegen des mit Erlebnisorientierung verbundenen Enttäuschungsrisikos, auf eine permanente Stei- gerung des Appetits. Schon die Antwort des Marktes und der Kulturpolitik auf den Erlebnishunger des Publikums - eine nicht mehr überschaubare Masse von Erlebnisangeboten - enthält die Gefahr der Desorientierung. Doch dieses Pro-

blem, den Überblick zu verlieren, ist nur ein Aspekt einer allgemeinen Unsicherheit. Andere Orientierungsprobleme kommen hinzu, etwa die Unübersichtlichkeit der erweiterten Möglichkeitsräume, die Zersplitterung der Schauplätze des Alltagslebens, die Fluktuation der Sozialkontakte, die kognitive Überforderung durch Informationen.

Auf eine Kurzformel gebracht, ist die folgende Analyse ein Versuch, die Gesellschaft der Gegenwart aus dem allgemeinen Bemühen um Orientierung heraus zu deuten. Persönlicher Stil, alltagsästhetische Schemata und soziale Milieus werden primär verstanden als Konstruktionen, die Sicherheit geben sollen. Im Rahmen dieser Untersuchung spielen vor allem vier Muster der Bewältigung von Unsicherheit eine Rolle: Wiederholung, Vereinfachung, Ausbildung von Gemeinsamkeiten, Autosuggestion.

Unter dem Einfluss erlebnisorientierter existentieller Anschauungsweisen gestalten sich Wirklichkeitsmodelle und objektive soziale Realität allmählich um, da sich die Menschen unter neuen Gesichtspunkten füreinander interessieren. Definitionen von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, soziale Annäherung und Distanzierung, Vorstellungen über die Grenzen sozialer Gruppen kreisen um verschiedene Varianten der Erlebnisorientierung. Anschaulich werden diese Varianten freilich nur indirekt, in Form persönlicher Attribute, die als Zeichen für bestimmte Erlebnisorientierungen gelesen werden. Besonders evident und signifikant sind Lebensalter, Bildung und persönlicher Stil. In der sozialen Wirklichkeit und in dem Bild, das sich die Menschen von ihr machen, treten typische Kombinationen dieser Merkmalsklassen hervor. Dabei haben Wirklichkeitsmodelle nicht nur passiven Status wie etwa eine Fotografie im Verhältnis zur Realität. Sie üben auch aktiv Einfluß auf die Wirklichkeit aus. Wie ist dies möglich?

Im Vergleich zu früher haben die Menschen mehr Spielraum, Realität so zu inszenieren, wie sie sich diese vorstellen. Die Art und Weise, wie sie ihre Existenzformen aufbauen, folgt einem neuen Muster. Wurden früher Subjekt und Situation überwiegend durch Vorgaben und soziale Kontrolle zusammengezwungen, so ist in der Gegenwart mehr Selbstbestimmung im Spiel: Wahl, freie Symbolisierung, gewollte Prägung durch eine persönliche Umwelt, die zu immer grösseren Teilen von den Handelnden bewußt komponiert wird. Der selbstbestimmte Typus des Aufbaus von Existenzformen reguliert auch die Entstehung sozialer Netzwerke. Beziehungswahl tritt an die Stelle von Beziehungsvorgabe. Es entstehen Gruppen, in denen sich objektiv jene erlebnissignifikanten Zeichenkonfigurationen verdichten, an denen sich die Menschen subjektiv orientieren.

1.8 Gemeinsamkeit trotz Individualisierung

Gibt es angesichts der Individualisierung noch gesellschaftliche Ordnungen, die die Soziologie untersuchen kann? Diese Untersuchung geht davon aus, dass auch unter der Individualisierung neue Gemeinsamkeiten entstehen.

Hauptsächlich vier Komponenten machen den Inhalt der Individualisierungsthese gegenwärtig aus:

  1. Abnehmende Sichtbarkeit und schwindende Bindungswirkung traditioneller Sozialzusammen-hänge (Schicht und Klasse, Verwandtschaft, Nachbarschaft, religiöse Gemeinschaft).
  2. Zunehmende Bestimmung des Lebenslaufes und der Lebenssituation durch individuelle Entscheidungen.
  3. Hervortreten persönlicher Eigenarten - Pluralisierung von Stilen, Lebensformen, Ansichten, Tätigkeiten.
  4. Eintrübung des Gefühlslebens: Einsamkeit, Aggressionen, Zynismus, Orientierungslosigkeit.

 

Die Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Kollektivität ist kein Widerspruch in sich. Konfrontieren wir diese Aussage mit den obeigen vier Punkten:

  1. Dem Rückgang der Bedeutung traditioneller Sozialzusammenhänge steht das Hervortreten neuer Sozialzusammenhänge gegenüber. Dabei handelt es sich allerdings um Formen der Vergesellschaftung, die dem einzelnen die Teilnahme freistellen. Mit der stärkeren Beteiligung des Individuums sinkt nicht notwendig die Verbindlichkeit sozialer Strukturen. Möglich ist sogar das Gegenteil: Selbstbindung kann grössere normative Kraft entfalten als der Zwang der Verhältnisse.
  2. Durch Zunahme der Optionen wird das Subjekt zwar immer mehr auf sich selbst als wählende Instanz zurückverwiesen. Mit dem Entscheidungsbedarf wächst aber auch der Orientierungsbedarf, so dass an die Stelle des äusseren Orientierungsdrucks der innere tritt. Wir registrieren Konformitätsbereitschaft ohne Zwang und Sanktionen. Die persönliche Suche nach Gesellschaft entsteht aus Unsicherheit, die mit Wahlfreiheit im allgemeinen verbunden ist, mit innenorientiertem Handeln im besonderen.
  3. Am offensichtlichsten manifestiert sich Individualisierung in der Pluralisierung der Existenzformen. Je mehr die Menschen die Wahl haben, desto unterschiedlicher können sie ihr Leben komponieren. Garderobe, Interieurs, Berufskarrieren, Ansichten und Einstellungen, persönliche Beziehungs- und Familiengeschichte, körperlicher Habitus, Sprachmuster - viele Bereiche, die uns als Subjekt ausmachen, scheinen sowohl in sich differenzierter geworden zu sein als auch in ihrer Kombination vielfältiger. Die Zunahme von Verschiedenartigkeit mit der Auflosung des Gemeinsamen gleichzusetzen, wäre allerdings ein logischer Fehler. Wenn statt zehn Möglichkeiten hundert oder tausend zur Verfügung stehen, läßt sich der expandierte Raum individueller Differenzierung durch Klassifkationen wieder reduzieren.
Gegen den Wirbel objektiver Pluralisierung behaupten wir uns mit semantischer Entpluralisierung.
  4. Auch die Krise der Lebensfreude deutet nicht auf die Abwesenheit von Gesellschaft hin, sondern auf neue Formen. Für die Wählbarkeit von Waren, Lebensläufen und Beziehungspartnern haben wir mit dem Verlust jener emotionalen Balance zu bezahlen, die uns das Vorgegebene selbst dann vermittelt, wenn es uns das Leben schwer macht. An die Stelle von engen und langfristig bestehenden Verwandtschaftsgruppen, Nachbarschaften und ökonomisch restringierten oder privilegierten Milieus ist kein gesellschaftliches Vakuum getreten. Neue, psychisch schwierigere Formen von Gesellschaft kristallisieren sich heraus: gewählte Beziehungen, regional und temporal punktualisierte Kontakte, revidierbare Koexistenzen, indirekte Gemeinsamkeiten, wie sie etwa durch ähnlichen Konsum konstituiert werden, durch Zugehörigkeit zum selben Publikum, durch die Erfahrung von Normalität aus der distanzierten Beobachtung der Alltagswelt um uns herum. Auch so können soziale Strukturen und intersubjektiv geteilte Deutungsmuster entstehen.

Gefühle der Einsamkeit und Orientierungslosigkeit scheinen den Zusammenbruch sozial konstruierter Wirklichkeit anzuzeigen, doch sind sie nur psychische Begleiterscheinungen einer individualisierten sozialen Wirklichkeit. Der Mensch ist auf sich selbst verwiesen; selbst sein Vergnügen ist sein Privatvergnügen. Vor viele Wahlen gestellt, in Selbstverantwortung entlassen, erlebt er sich getrennt von anderen, verunsichert durch die Anforderung, etwas aus seinem Leben zu machen, oft heimlich im selben Maße enttäuscht, wie er sich für das Projekt seines Lebens engagiert. Weder Kollektivität noch Individualität sind grenzenlos. Wie erzwungene Gemeinsamkeit eine Individualisierungstendenz erzeugt, so die Entgrenzung des Lebens eine Bereitschaft zur Gemeinsamkeit.

1.9. Tour d`horizon

Konstruktivismus

Die einfachste Umschreibung für die Grundelemente des Konstruktivismus lautet: Jeder legt sich seine Welt selbst zurecht. Im Mittelpunkt der Theorie steht das Subjekt, gewissermassen als Bauherr der Konstruktionen (Vertreter: Maturana).

Wissenschaftstheoretische Argumente sprechen aber für die Konstrukte von objektiver Wirklichkeit und Erkenntnis („Konstrukt“ insofern, als es sich auch hierbei nur um Anschauungsweisen handelt). Wir brauchen diese Konstrukte als Leitidee, um geeignete und ungeeignete Forschungsverfahren zu unterscheiden, brauchbare und unbrauchbare Interpretationen, seriöse Theorie und Unsinn. Dass uns sichere Wahrheit nicht erreichbar ist, dass wir nichts über das Wesen der Dinge erfahren können, dass gerade die Gemeinschaft der Wissenschaftler immer wieder besonders lächerliche Episoden der Desinformation inszeniert, dass man am Wahrheitsgehalt von Aussagen umso mehr zweifeln muss, je autoritativer er reklamiert wird - all dies ist gewiss unbestreitbar, doch werden diese Einsichten nach vieler Wiederholungen allmählich zur selbstverständlichen Propädeutik. Was dagegen oft kaum der Propädeutik für würdig erachtet wird - die Überlegung, wie man sinnvoll empirisch argumentieren kann - entpuppt sich bei näherem Hinsehen als immer noch grosse, grade in der Soziologie erst in Ansätzen bewältigte Herausforderung.

2. Zeichenfluktuation und Bedeutungskonstanz

Es gilt zwei grundverschiedene Arten von Enttäuschungen zu unterscheiden: Die Enttäuschung des Nichthabens und die Enttäuschung des Nichterlebens. Im ersten Fall fehlen die Mittel. Sozialgeschichtlich hat die zweite Art der Enttäuschung stark zugenommen, während die erste aus dem Leben vieler Menschen fast verschwunden ist. Oft wird aber die Enttäuschung zweiter Art dem Erlebnisprojekt (Zeichen) zugeschoben. Erlebnisse hängen aber nicht nur von der Qualität der Zeichen ab, sondern vor allem von unserer persönlichen Leistung beim Aufbau von Bedeutung. Keine noch so aufwendige Infrastruktur von Service-Einrichtungen des Erlebnismarktes kann uns diese Anforderung abnehmen.

Wenn aber der Erlebnismarkt immer mehr Zeichen produziert, eine immer grössere Flut von Reizen auf uns ergiesst, dann wird die Situation immer unübersichtlicher und die Zuordnung von Zeichen und Bedeutung wird unklarer. Es wird daher auch schwerer überhaupt etwas zu erleben.

Nicht nur die Neuartigkeit, sondern auch diegrosse Zahl von Zeichen erschwert die Konstruktion von Erlebnissen. Denn erst dann, wenn die Konsumenten die unübersehbare Zahl von Artikeln und Dienstleistungen, die der Erlebnismarkt bereithält, auffassen und mit Bedeutung in Verbindung bringen können, ist es ihnen möglich  diese Zeichen auch ästhetisch zu nutzen. Immer wieder neue Zeichen müssen auf physische Strukturen des Erlebens bezogen werden, die wir nicht ständig ändern können, wenn wir überhaupt noch etwas empfinden wollen. Ein erlebnisorientierter Mensch droht sich gerade durch die konsequente Umsetzung seines Programms das Wasser abzugraben. Indem er sich mit allen nur denkbaren Reizen versorgt, erhöht er die Schwierigkeiten des Erlebens und damit auch die Wahrscheinlichkeit von Enttäuschungen der zweiten Art.

Mit der Verdichtung alltagsästhetischer Episoden (Erlebnisorientierung bezeichnet die Absicht, alltagsästhetischer Episode den häufigsten Typus der Ausführung. Die kleinste Einheit ist die Episode, Episoden zusammen bilden den Stil) sank die Fähigkeit, dem einzelnen Zeichen noch Bedeutung abzugewinnen. Darauf nicht mit Askese zu reagieren, um die Erlebnisfähigkeit wiederherzustellen, sondern mit Mehrnachfrage, ist zwar verständlich, aber kontraproduktiv. Je mehr sich die Zeichenmenge aufbläht, je rascher ihr Austausch betrieben wird, desto einleuchtender scheint die Überlegung, dass doch nun jeder genug Angebote für seinen speziellen Bedarf finden könne, um sich starke Erlebnisse zu bereiten - und desto unwahrscheinlicher wird es in Wirklichkeit. Die Überdosis des Neuen lässt Langeweile aufkommen, das Ungewöhnliche wird alltäglich, die Zeichen treiben schneller an uns vorbei, als wir intensiv empfundene Bedeutungen dazu konstruieren können. Rasche Zeichenfluktuation steigert das Enttäuschungsrisiko, Enttäuschungsangst steigert die Nachfrage.

Gleichzeitig wächst die Unsicherheit. In der prekären Situation drohenden Bedeutungsverlustes der Zeichen, mag sie auch durch das eigene Nachfrageverhalten überhaupt erst entstanden sein, entsteht ein eminentes Bedürfnis nach Ord- nung und Orientierung. Gefragt sind Strukturen, die den blind machenden Wirbelsturm von Zeichen verhindern und die Herstellung von Beziehungen zu den dauerhafteren, nur allmählich wandelbaren subjektiven Bedeutungsmustern erleichtern. So bilden sich Strukturen wie - alltagsästhetische Schemata, soziale Milieus, Szenen. Sie verweisen auf ein kollektives Bedeutungssystem.

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